Vermeer - VERsorgungssicherheit in Deutschland und Mitteleuropa während Extremwetter-Ereignissen - Der Beitrag des transnationalen Stromhandels bei hohen Anteilen Erneuerbarer Energien

Hintergrund und Motivation

Der Ausbau von Erzeugungsanlagen auf Basis erneuerbarer Energien (EE), insbesondere On­hore- und Offshore-Windkraftanlagen sowie Photovoltaikanlagen, ist maßgeblich für die Reduktion der Treibhausgasemissionen des Elektrizitätssektors, um die Stromproduktion von fossilen Kraftwerken durch EE-Anlagen zu substituieren. Mit zunehmendem Anteil fluktuierender EE in der Energieversorgung steigt jedoch auch die Abhängigkeit von den vorherrschenden Wetterverhältnissen. Extremwetterereignisse, welche aufgrund des Klimawandels in Häufigkeit und Intensität zunehmen, werden das zukünftige Stromsystem stark beeinflussen. Daher ist eine Betrachtung solch veränderter Rahmenbedingungen in der Energiesystemanalyse von großer Bedeutung. Insbesondere können (kalte) Dunkelflauten – Perioden hoher Residuallast infolge geringer Windkraft- und PV-Erzeugung (bei gleichzeitig hoher Nachfrage) – zu einem erhöhten Bedarf an Flexibilität zum Ausgleich von Stromangebot und -nachfrage führen. Diese Flexibilität kann durch verschiedene Technologien und Instrumente sichergestellt werden. Zum einen können regelbare Kraftwerke, Speicher oder die Steuerung der Nachfrageseite einen wichtigen Beitrag zur Lastdeckung leisten. Der Ausbau von Stromnetzen und die damit verbundenen Potenziale für Im- und Exporte von Strom zwischen mehreren Marktzonen stellen einen weiteren wesentlichen Baustein für Flexibilität in einem von EE dominierten Elektrizitätssystem dar. Im europäischen Kontext sind dabei die grenzübergreifenden Netzkuppelstellen von großer Bedeutung. Neben den physikalischen Restriktionen der Übertragungsnetze ist der Stromhandel schließlich von marktgetriebenen Entscheidungen abhängig.

Zielsetzung und Methodik

Das Projekt VERMEER beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit der Bewertung der Versorgungssicherheit der deutschen Stromversorgung in Extremwettersituationen und berücksichtigt dabei die Potenziale eines innereuropäischen Ausgleichs. Zentral für die Analyse ist einerseits die Abbildung des europäischen Ausbaus der EE und andererseits die Simulation des grenzübergreifenden Handels zwischen verschiedenen europäischen Marktzonen unter Berücksichtigung der Übertragungspotenziale an den Kuppelstellen. Herausfordernd dabei ist die Berücksichtigung der Übertragungskapazitäten in Abhängigkeit des Wetters, wodurch große Veränderungen bei diesen möglich sein können. Ein großer Teil des Projekts VERMEER beschäftigt sich deswegen mit der Erstellung und Synthese von Szenarien, welche als wetterbezogene Stresstests interpretiert werden können. Daraus werden der Flexibilitätsbedarf und die Einschränkungen der EE-Erzeugung ermittelt. Die Analyse von umfangreichen Wetter- und Klimadaten erlaubt es gleichzeitig, zeitlich und räumlich hoch aufgelöste Wind- und Sonneneinstrahlungsprofile zu erzeugen. Da die Stromnachfrage auf die Wetterbedingungen reagiert, wird der Einfluss des Wetters auch für diese Seite behandelt. Durch eine systematische Charakterisierung von Extremwetterereignissen mit dem Energiedatenmodell EnDAT und eine darauf aufbauende Erstellung von synthetischen EE-Erzeugungszeitreihen mit dem Modell HighResO werden diese Phänomene in energiesystemanalytischen Modellen abbildbar. Auf Basis der Einspeise- und Lastprofile erfolgt für die identifizierten Extremwettereignisse eine Simulation des Strommarktes- und Netzes. Die eingesetzten Modelle umfassen das hochaufgelöste Netzmodell TANGO, welches blockscharfe Kraftwerkseinsätze simuliert und die Situation in den Übertragungsnetzen darstellt, sowie das gekoppelte Marktmodell AMIRIS zur Analyse der Strommärkte und die Abbildung der Handelsflüsse zwischen den Marktzonen. Diese enge Verschaltung der beiden Bereiche Netz und Markt erlaubt detaillierte Erkenntnisse hinsichtlich der Versorgungssicherheit und bildet gleichzeitig den regulatorischen Rahmen in Europa ab, in dem das Market Clearing an den Strombörsen stattfindet, und die Kraftwerksbetreiber ihre Anlagen nach entsprechenden Fahrplänen betreiben, während die Netzbetreiber für den sicheren Netzbetrieb auf Basis dieses Marktergebnisses verantwortlich sind, bzw. diesen Betrieb mit möglichst geringen Eingriffen in den Markt sicherstellen müssen.

Der Untersuchungsraum ist auf Europa festgelegt, welches die Simulation von großflächigen Extremwetterereignissen möglich macht. Die verwendeten Modelle umfassen dabei konsistent für die jeweils durchzuführende Analyse leicht unterschiedliche Geographien. So decken die Modelle EnDAT, TANGO und HighResO die EU27 (ohne Malta) inklusive Norwegen, der Schweiz, Großbritannien, sowie der Staaten des Westbalkans ab und stellen entsprechende Daten für nachfolgende Modelle im Workflow bereit. Für die flow-based Marktsimulation werden – analog zum aktuellen Umsetzungsrahmen – in TANGO die Länder der Core Capacity Calculation Region (CCR) berücksichtigt. Für die Marktsimulation in AMIRIS sowie die sich daran anschließende Redispatch-Rechnung wird Deutschland mit seinen elektrisch-verknüpften Nachbarländer abgebildet.

Die Analysen zum grenzüberschreitenden Stromhandel unter Berücksichtigung dynamischer Übertragungskapazitäten in kritischen Wettersituationen liefern ein umfassendes Bild der erforderlichen Flexibilität für Deutschland. Dabei soll der Fokus dem geänderten Kraftwerkspark, welcher sich durch den Ausbau von EE-Anlagen und der Stilllegung konventioneller Kraftwerke ergibt, Rechnung tragen. Die zentralen Ziele von VERMEER sind:

  1. Umfassende Bewertung der Charakteristika von Extremwetterereignissen auf klimatologisch belastbaren Zeitskalen, einschließlich zeitlich-räumlicher und ressourcenübergreifender Korrelationen.
  2. Berechnung zeitlich-räumlich sowie technologisch hoch aufgelöster Stromerzeugungspotenziale.
  3. Ermittlung der potenziellen Flexibilität aufgrund des grenzüberschreitenden Handels für das deutsche Stromsystem unter Berücksichtigung dynamischer Nettotransferkapazitäten (Net Transfer Capacities, NTC) für die gekoppelten Märkte.
  4. Betrachtung des innereuropäischen Handels im Falle von Wetterextremen und damit verbundenen Erzeugungsausfällen sowie mögliche Nachfragespitzen und Abschätzung der verbleibenden Lücke in der Versorgungssicherheit für Deutschland.

Analysiert wird dabei ein Systemzustand für das Jahr 2035, der im Hinblick auf den Netzausbau in Deutschland der bestätigten Version des Netzentwicklungsplans 2035 in der Version 2021 entspricht, für die Kraftwerkskapazitäten, die installierte Leistung der EE sowie die nachgefragte Strommenge wird das Szenario „Distributed Energy“ des TYNDP 2022 (lineare Interpolation zwischen 2030 und 2040) herangezogen.

Ergebnisse

Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse stellen einen Auszug der Kernergebnisse des Projekts dar. Eine umfangreiche Dokumentation der vollständigen Ergebnisse findet sich in dem am Ende des Textes verlinkten Projektbericht.

Hochaufgelöste Simulation von EE-Profilen und Lastzeitreihen

Mit dem Modell HighResO wird ausgehend vom derzeitigen Anlagenbestand der Ausbau der EE-Anlagen auf die im Szenario hinterlegte installierte Leistung simuliert. Anschließend wird basierend auf ERA5 Wetterdaten die Erzeugung simuliert. Zudem werden die sektoralen und prozessspezifischen Nachfragemengen aus dem Szenario regionalisiert und in entsprechende Nachfrageprofile überführt. Der temperaturabhängige Anteil wird hierbei unter Berücksichtigung der Wetterbedingungen berechnet.

Identifikation von Extremwetterzeiträumen basierend auf der Residuallast

Basierend auf den berechneten Nachfragezeitreihen und mit dem Modell EnDAT simulierten EE-Einspeiseprofilen wird die stündliche Residuallast für die Wetterjahre 1991-2020 ermittelt und im Hinblick auf Zeiträume hoher auftretender Werte analysiert. Identifiziert werden die Zeiträume mit maximaler Residuallast summiert über das jeweilige Zeitinterval und alle Zonen, in einem täglichen, wöchentlichen, zweiwöchentlichen, dreiwöchentlichen, vierwöchentlichen, dreimonatigen und halbjährlichen Intervall, jeweils pro Jahr. Die Analyse identifiziert den Winter 1996/1997 als Zeitraum mit besonders hoher Residuallast für viele der betrachteten Zeitintervalle heraus. Für die weiteren Untersuchungen wird ein zweiwöchiger Zeitraum ausgewählt, welcher das Residuallastmaximum für einen Tag und eine Woche beinhaltet und als zweiwöchentlicher Zeitraum auf Rang 2 der betrachteten Zeiträume liegt. Die mit HighResO simulierte Windkrafterzeugung ist in Abbildung 1 für den identifizierten Zeitraum für den Basisfall (Wetterjahr 2016) sowie das Extremwetterereignis dargestellt.

Abbildung 1: Winderzeugung in GWh und durchschnittlicher Kapazitätsfaktor an den Umspannwerksknoten des Übertragungsnetzes (Extremwetterereignis rechts).

Auswirkungen auf die gekoppelten Strommärkte

Die Auswirkungen auf die Strommärkte werden mit dem agentenbasierten Strommarktmodell AMIRIS für Deutschland und die elektrisch gekoppelten Nachbarzonen simuliert. Eine Besonderheit des Projektes VERMEERS liegt darin, dass die Handelskapazitäten hierbei die lastflussbasierte Marktkopplung (Flow-based Market Coupling) berücksichtigen, welche mit dem Modell TANGO-FBMC auf Basis des Systemzustandes und der Wetterbedingungen berechnet und an das Modell AMIRIS übergeben werden. Berechnet werden 9 Szenarios mit unterschiedlichen Annahmen hinsichtlich der verfügbaren Handelskapazitäten um den Einfluss des Extremwetterereignisses in Bezug auf potentiell auftretende Knappheitssituationen zu quantifizieren.

Für das Extremwettereignis ergeben sich Knappheitssituationen (Stunden in denen die Nachfrage nicht vollständig gedeckt werden kann) für mehrere Marktgebiete, die entsprechend in der simulierten Marktpreisobergrenze von 10.000 €/MWh resultieren. Die Strompreise für die deutsche Preiszone sind in Abbildung 2 für das Extremwetterereignis dargestellt.

Da die Knappheit nicht gleich(zeitig) in allen simulierten Marktgebieten auftreten, ergeben sich neben dem veränderten Kraftwerksdispatch innerhalb der Zonen auch deutliche Abweichungen in den Austauschflüssen zwischen den Zonen.

In einer anschließenden Variation der NTC Kapazitäten aus dem TYNDP auf bis zu 150 % wird untersucht ob diese die Knappheitssituationen mildern können.  Es zeigt sich, dass die Anzahl der Knappheitsstunden leicht sinkt, jedoch in den simulierten Szenarios nie gänzlich auf Null gebracht werden kann.

Abbildung 2: Ausschnitt der Strompreise in der deutschen Marktzone während der Extremwetterperiode.

Betrachtung im deutschen Übertragungsnetz

Die Marktergebnisse werden anschließend im deutschen Übertragungsnetz simuliert, um zu ermitteln ob sich aus potentiellen Netzengpässen eine Verschärfung der Knappheit ergeben könnte. Das Ergebnis der Simulation des Engpassmanagements ist in Abbildung 3 dargestelllt. Es zeigt sich, dass die geografische Verortung der Redispatch-Maßnahmen für beide Szenarien weitgehend deckungsgleich ist, während der Umfang der Maßnahmen im Extremszenario sogar abnimmt. Dies ergibt sich aus der Wahl des Extremwetterereignis, welches ein „Schwachwindenereignis“ darstellt. Die Höhe der Residuallast ist negativ mit der von Windkraftanlagen eingespeisten Energiemenge korrelliert, damit ergeben sich Knappheitssituationen im Markt potentiell während Schwachwindereignissen. Im Netz sind hingegen Engpässe positiv mit starker Erzeugung aus Windkraftanlagen korreliert, sodass das untersuchte Extremereignis entlastend wirkt und entsprechend den Redispatch-Bedarf reduziert. Die Simulation erhöhter Handelskapazitäten führt in der Netzsimulation zu einem leichten Anstieg notwendiger Redispatch-Maßnahmen.

Abbildung 3: Aggregierte Redispatch-Maßnahmen im betrachteten Extremzeitraum für das Basisszenario (links) und das Extremwetterszenario (rechts).

Schlussfolgerungen

Extremwetterereignisse wie der untersuchte Zweiwochenzeitraum können zu Knappheit in der deutschen Marktzone führen, welche für das untersuchte Szenario nicht durch konventionelle Erzeugung oder Stromhandel ausgeglichen werden kann. Die Gleichzeitigkeit des Extremwetters in Europa führt dazu, dass eine Erhöhung der Übertragungskapazitäten im betrachteten Untersuchungsraum und mit dem verwendeten TYNDP-Szenario nur begrenzt zur Reduktion der Knappheit beiträgt, und daher ein zusätzlicher Bedarf an gesicherter Kraftwerksleistung besteht.

Netzseitig reduziert die untersuchte Extremsituation die auftretenden Engpässe, da diese stark mit der Erzeugung aus Windkraftanlagen korreliert sind und es sich um ein Schwachwindereignis handelt. Jedoch steigt bei einer erhöhten Übertragungskapazität der notwendige Redispatch-Einsatz an, wobei die Einspeisereduktion der erneuerbaren Energien unterproportional stark betroffen ist.

Weiterführende Links

Der vollständige Projektbericht kann hier [externer Link] abgerufen werden.

Die simulierten, räumlich auf die Umspannwerke des Übertragungsnetzes aggregierten, Last- und EE-Erzeugungszeitreihen stehen in Kürze hier zum Download bereit.